24.05.15

grüner kristall


"was bedeutet das meer für dich?", hatte sie gefragt und er hatte sie perplex eine zeitlang nur angesehen, so spontan war die frage gekommen, mitten beim dessert. sie waren essen gewesen, es war ein gelungener abend gewesen, mit kerzenlicht und allem, was dazugehörte. als das dessert vor ihnen stand, hatte er zugelangt wie ein firmling, obwohl er überhaupt keinen hunger mehr verspürte, sie aber hatte eine zeitlang aus dem fenster gesehen und vor sich hingesonnen. gar nicht ihre art. bei süssigkeiten konnte gerade sie sich nicht lang zurückhalten, aber sie war dagesessen, hatte ihr spiegelbild in der scheibe betrachtet, und sie hatte überlegt. lange überlegt.


sie hatte ihn danach merkwürdig angesehen. ein anflug von melancholie lag auf ihrer stirn, und sie hatte traurige augen, die im licht der kerzen sehr dunkel waren. man konnte das bernstein in ihren augen gar nicht mehr sehen, so dunkel waren sie plötzlich geworden. er verstand die frage wohl, aber nicht den grund für ihre plötzlich auftretende traurigkeit. der abend war vergnügt gewesen, sie hatten viel gelacht und bestens gegessen, als warum sollte sich ganz plötzlich ihre stimmung ändern? mit einem schlag. als würde eine kalte, traurige welle über sie hereinbrechen, sie überschütten mit grünem kristall.
wie kam er auf diesen ausdruck? grüner kristall.
kalter grüner kristall mit winzigen luftbläscheneinschlüssen, wie glas, dickes, schweres grünes glas, etwas, das den blick bannt. etwas faszinierend schönes. altes. uraltes.
"wer kennt den anderen schon wirklich", hatte er gedacht und eine leichte gänsehaut hatte sich auf seinen unterarmen gebildet. man lebt mit einem menschen jahrelang zusammen, aber dass man ihn dann kennen würde, kann man nicht wirklich behaupten.
er versuchte, auf ihre frage, die neue stimmung einzugehen, er dachte an den ozean und dass er ihm viel bedeuten würde, ja, aber nicht so viel wie ihr, das konnte er schon jetzt sehen. dass sie mit seiner antwort nicht wirklich zufrieden sein würde.


als er von seiner kindheit erzählte, dass er mit seinen grosseltern immer am meer urlaub gemacht hatte, als die familie noch grösser war - er hatte tatsächlich gesagt, als wir noch alle beisammen waren, neigte sie den kopf, so leicht, beinahe unsichtbar, als würde eine königin einem von ihren untertanen zuhören und ihn auch verstehen, obwohl er ihr hemmungslos unterlegen war, aber sie nahm seine worte entgegen. lächelte. das traurigste lächeln der welt, dachte er, als wäre jemand gestorben und man würde sich an ihn erinnern, bei gesprächen und einem glas wein, als gelte es, einem geliebten verstorbenen seine aufwartung zu machen, ihn noch einmal zu fühlen, seinen geist, seine aura, bevor man ihn wieder gehen liess, bis zum nächsten mal.
die gänsehaut hatte sich inzwischen schon auf seinem rücken breitgemacht.


die leute im lokal hatten begonnen, sie anzustarren. auf eine merkwürdige art und weise. seine frau war sehr attraktiv und leute starrten immer, aber dieses mal...es war berührend und beängstigend zugleich. sie starrten, als würden sie etwas sehen, was sie nicht ertragen konnten. fassungslos. die frau am nachbartisch hielt ihr weinglas in der hand, in der bewegung zum mund festgefroren. das glas kippte leicht und einige tropfen rotwein landeten auf der weissen tischdecke, was sie jedoch nicht bemerkte. normalerweise amüsierte er sich prächtig, wenn anderen frauen seine frau anstarrten und irgendwie genau studierten, wie es eben nur frauen untereinander machten, aber diesmal war ihm nicht zum lachen zumute. eher im gegenteil. mit einem mal verstand er, dass er sie nie wirklich für sich gehabt hatte. dass sie frei war, niemandes frau, ohne bindung, ohne bezug zu seiner welt, er verstand, dass sie fremd war, wie ein alien, nicht unter ihresgleichen. etwas unsagbar kaltes ging von ihr aus, nicht die kälte eines leichnams, sondern kälter. von natur aus eiskalt. kalt wie ein fisch.
sie redete mit ihm und er verstand kein wort. sie war zu wundervoll, als sie so dasass, ihr das blonde weiche haar wie ein vorhang übers gesicht fiel, als sie sich vorbeugte, wie sie lächelte und wie ihre augen dabei traurig blieben. er glaubte nicht daran. wollte nicht daran glauben. er war kein kleines kind mehr. er konnte den gedanken nicht mal richtig zu ende denken, weil er sich vor sich selbst geschämt hätte, dass die frau, die er liebte, in dieser nacht zu einem wesen mutiert war, das es nur in mythen und legenden gab. wenn er ehrlich war, hatte es diese phasen schon einige male gegeben, nur nie so offen, nie so traurig und eindeutig. es war eine dieser nächte, in der sie stiller wurde, mehr für sich blieb, in der sie endlos draussen im garten war oder im mondlicht vor dem haus sass, träumend. verloren. ja, sie war völlig verloren. und sie war so schön, dass sie sie in stücke gerissen hätten, nur um sie zu besitzen. einen teil von ihr, und ihn am herzen zu tragen, als glücksbringer, als liebespfand, als kleine, traurige reliquie. einer meerjungfrau. einer magischen kreatur.

er wusste, dass ihre augen wie grüner kristall leuchteten. er hatte es schon gesehen, aber er wollte es nicht sehen, nicht verstehen. nie und nimmer. dass sie teil einer alten welt war und er nicht. dass sie heimweh verspürte, die er, obwohl er sie so schrecklich liebte, nie fortnehmen konnte, egal, was er tat. es würde immer zu wenig sein. er betrachtete seine traurige frau lange, griff über den tisch und nahm ihre kalte hand in seine. sie sah auf und da war es wieder, das funkeln, das grün, wie die wilde grüne see.


"was mir das meer bedeutet", sagte er schliesslich, und sie sah ihn stumm an. "es ist mein leben."
sie drückte seine hand, setzte zum reden an und brachte kein wort heraus. so sassen sie da, im zentrum der aufmerksamkeit und waren trotzdem wie auf einer insel, zu zweit.

er wusste nur, dass er sie liebte. es war alles, was er ihr geben konnte.
vielleicht war es ja doch genug.